Die Dystopie Germania
Auf dem Reichsparteitag 1936 kündigte Adolf Hitler den „Neuaufbau von Berlin als Hauptstadt des deutschen Reiches“ an. Berlin sollte mit Werken für die Ewigkeit zum „Symbol deutscher Weltgeltung“ ausgebaut werden und nach der Umgestaltung den Namen Germania tragen. In ferner Zukunft sollten seine zu errichtenden Monumentalbauten mit den Pyramiden des alten Ägyptens, mit Babylon und Rom verglichen werden. Hitler imaginierte eine Staatsarchitektur, die ausschließlich auf die überzeitliche Selbstdarstellung des Reiches und seines Führers abzielte. Sie sollte für die Ewigkeit sein und ihn unsterblich machen. Die schiere Größe der Gebäude – die Große Halle war mit 315 m × 315 m Grundfläche und 320 m Höhe als größtes Kuppelgebäude der Welt geplant – und die Abwesenheit funktioneller Ansätze zeigen den deutlich in ihr angelegten dystopischen Charakter dieser Utopie. Sie erschien schon den Zeitgenossen als unnahbare Architektur und ein Zeichen von Größenwahn. Ihre offensichtliche Gigantomanie machte sie nicht weniger gefährlich, denn Hitler war entschlossen, die Utopie Realität werden zu lassen. Mit der Berufung Albert Speers zum Generalbauinspektor für die Reichhauptstadt (GBI) am 30.1.1937 und dem am 4.10.1937 erlassenen „Gesetz über die Neugestaltung deutscher Städte“ wurde die Rechtsgrundlage zur Umsetzung der Planungen gelegt. Speer war Hitler direkt unterstellt. Ihm oblag die Gestaltung der Reichshauptstadt nach den Vorstellungen des Führers. Hierzu verfügte er über weitreichende Kompetenzen und Weisungsbefugnisse gegenüber den städtischen Planungsbehörden. Albert Speer legte mit dem Achsenplan die umfangreichste und radikalste Planung zur Umgestaltung Berlins vor, die es in der Geschichte der Stadt gab.
Die Ost-West-Achse
Kern und Ausgangspunkt der Planung von Albert Speer war ein Kreuz zweier 40 bzw. 50 Kilometer langer, neu angelegter monumentaler Achsen. Ihr Schnittpunkt sollte im Tiergarten genau an der Stelle liegen, wo heute das sowjetische Ehrenmal steht. Ein sieben Kilometer langes Teilstück der Ost-West-Achse, das vom Brandenburger Tor bis zum Adolf-Hitler-Platz (heute Theodor-Heuss-Platz) führte, wurde ab 1935 ausgebaut. Die Charlottenburger Chaussee (heute Straße des 17. Juni) wurde im Tiergarten auf 10 Fahrspuren verbreitert. Als optischer Blickpunkt wurde die Siegessäule vom Königsplatz vor dem Reichstag auf den Großen Stern versetzt und hierbei um 7,5 Meter erhöht. Die neue „via triumphalis“ erhielt Torhäuser am Großen Stern und wurde mit von Speer gestalteten zweiarmigen OWA-Kandelabern links und rechts der Trasse zwischen dem Theodor-Heuss-Platz und dem S-Bahnhof Tiergarten repräsentativ beleuchtet. Zu Hitlers 50. Geburtstag am 20. April 1939 wurde der erste Bauabschnitt eingeweiht.
Die Nord-Süd-Achse
Das etwa 6 km lange Kernstück der 40 Kilometer langen Nord-Süd-Achse sollte zwischen dem neuen Nordbahnhof im Südosten Moabits und dem neuen Südbahnhof in Tempelhof verlaufen. Es war als 120 Meter breite Prachtstraße des NS-Staates geplant, an deren Verlauf alle wichtigen Reichs- und Parteibehörden sowie Firmenzentralen und kulturelle Einrichtungen angesiedelt werden sollten. Als städtebaulicher Höhepunkt war der Große Platz als Aufmarschplatz für bis zu eine Million Menschen vorgesehen. Er sollte von der Großen Halle, dem Führerpalast, dem Großdeutschen Reichstag, dem Reichstagsgebäude, dem Oberkommando der Wehrmacht und der neuen Reichskanzlei umgeben werden. Am Schnittpunkt mit der Potsdamer Straße war der Runde Platz geplant, um den sich das Haus des Fremdenverkehrs und die Zentrale der Allianz-Versicherung gruppieren sollten. Das gesamte Tiergartenviertel sollte zum Oberkommando des Heeres umgestaltet werden. Den Anschluss zur Nord-Süd-Achse bildete eine gewaltige Soldatenhalle.
Das Botschaftsviertel
Das Botschaftsviertel bildet den westlichen Teil des Tiergartenviertels. Es wird von der Tiergartenstraße, dem Landwehrkanal und der Stauffenbergstraße begrenzt, an die sich das Kulturforum anschließt. Das Gebiet des Botschaftsviertels wurde erst 1861 nach Berlin eingemeindet. Den Bebauungsplan für das damals Albrechtshof genannte Quartier entwickelte Friedrich Hitzig 1863. Seit dem letzten Viertel des 19. Jh. und verstärkt seit dem Ersten Weltkrieg siedelten sich dort zahlreiche Botschaften und Konsulate an. Im Nationalsozialismus griff dieser Prozess auch auf den östlichen Teil des Tiergartenviertels über. Die Italienische Botschaft erwarb dort eine repräsentative Villa in der Matthäikirchstraße 31. Aufgrund des vorgesehenen Abrisses erhielt sie wenig später ein Ersatzgrundstück und einen monumentalen Neubau in der Tiergartenstraße. 1937 wurde das Viertel im Zuge der nationalsozialistischen Reichshauptstadtplanung offiziell zum „Diplomatenviertel“ erklärt.
„Arisierung“, Enteignung, Abriss
Die Verfolgung jüdischer Deutscher begann im Tiergartenviertel 1933 mit der Arisierung der zahlreichen Gewerbebetriebe, Kunsthandlungen und Auktionshäuser rund um den Kemperplatz. Es folgte die wirtschaftliche Ausplünderung durch konfiskatorische Steuern und Abgaben, wie die Reichsfluchtsteuer und die Judenvermögensabgabe. Für die Hauseigentümer im Tiergartenviertel kam mit den Enteignungen ihrer Grundstücke eine weitere existentielle Bedrohung hinzu. Allein für den Bau der Nord-Süd-Achse sollten ganze Straßenzüge mit etwa 45.000 Wohnungen abgerissen werden. Jüdische Eigentümer und Mieter wurden auf Anweisung des GBI aus ihren Wohnungen vertrieben. In frei gewordene sogenannte „Judenwohnungen“ in anderen Stadtvierteln wurden „arische“ Deutsche eingewiesen. Im Frühjahr 1938 wurden für den „Runden Platz“ an der Viktoriastraße die ersten 25 Gebäude nach Enteignungen abgetragen. In Anwesenheit von Adolf Hitler wurde am 14.06.1938 der Grundstein für das Haus des Fremdenverkehrs gelegt.
Die Zerstörung
Die durch den Bombenkrieg und den Endkampf um Berlin verursachten Zerstörungen hinterließen am Ende des Zweiten Weltkrieges im Tiergartenviertel eine Trümmerwüste gewaltigen Ausmaßes. Die Planer des GBI waren bis zum Beginn der Bombardierungen Berlins mit ihrer Umgestaltung des Quartiers nicht über den Rohbau des Hauses des Fremdenverkehrs hinausgekommen. Die Zerstörungen durch den Luftkrieg hatten sie zunächst begrüßt, da dies den teuren Rückbau sparte. Wiederaufbauplanungen des GBI wurden mit der Kapitulation und dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus obsolet. Rund um die „Stunde Null“ bleiben viele Fragen: Was geschah mit den Bewohnern des Tiergartenviertels? Wer wurde deportiert und in den KZs ermordet? Wer starb durch die Bomben und die Kampfhandlungen? Wer konnte emigrieren? Wer begann außerhalb von Berlin ein neues Leben? Die Zerstörung des Tiergartenviertels war total. Sie betraf die Bausubstanz, die Bewohner und die soziale Gemeinschaft. Sie ist bis heute nicht aufgearbeitet.